Unter dem Wintercape trug Claire Deschamps, wie es sich für den Kirchgang gehörte, den langen schwarzen Rock, eine Leinenbluse und ihre Wolljacke. Wie immer ging sie neben ihrem Mann an der Spitze der französischen Gemeinde, doch anders als sonst musste sie sich heute anstrengen, um Schritt zu halten. Sie atmete schnell. Seit ein paar Stunden schmerzte ihr Unterleib, wie er es in jedem Monat einmal tat, und sie fühlte sich schwach und zerschlagen. Als der fremde Arm vorschnellte und ihrer Gruppe den Eintritt in die Kirche verwehrte, war es für sie wie ein zweiter Weckruf an diesem Morgen: »Ihr wartet. Erst kommen unsere Leute, dann die Fremden.«
Es war ein Tag, den sie im Bett hätte verbringen mögen, mit einem Tee, einem Buch und einem warmen, in ein Tuch geschlagenen Ziegelstein aus dem Ofen. Aber so etwas erlaubte sie sich nicht. Sonntags ging man in die Kirche – es sei denn, man war wirklich krank, wie die Frau des Arztes Mathieu, die oft nicht mitkam. Doch mit ihr hätte Claire nicht tauschen mögen.
Der Arm, der den steinernen Türbogen versperrte, gehörte dem jungen Haeuser, der Jockel gerufen wurde, ein unaussprechlicher Name. Ein Handwerkerarm, breit, weiß, dazu voller Muttermale. Die blonden Härchen auf ihm standen in die Höhe, und der Hemdsärmel, der ihn bedecken sollte, war zu kurz.
Jockel Haeuser grinste.
Er hatte Publikum. Auf dem Platz rund um die Kirche wohnten einfache Leute, die kaum mehr besaßen, als sie auf dem Leib trugen. Immerhin hatten ihre Kinder im Winter Schuhe an, grobe Holzpantinen, über die ein Stück Leder genagelt war. Claire blickte in reglose Gesichter. Sie wollte an einen Scherz glauben – an den dummen Streich eines jungen Mannes, dessen Kraft mehr in die Arme als ins Hirn gegangen war und der gleich in ein Lachen ausbrechen würde. Wäre ihr selbst die Freundlichkeit an diesem Morgen nicht so verdammt schwergefallen, hätte sie sogar eine halbwegs belustigte Reaktion zeigen können. Schlechte Darbietungen hatte sie in ihrem Leben schon mehrfach erlebt. Am besten nahm man sie nicht zu ernst.
Haeuser bewegte sich nicht.
»Wollt Ihr Euren Arm nicht wieder herunternehmen?«, hörte sie Paul, ihren Mann.
»Sicher. Sobald unsere Leute einen Platz gefunden haben, und zwar alle. So lange wartet ihr.«
Es war sein Tonfall, der Claire davon überzeugte, dass der andere meinte, was er sagte. Das war kein Scherz, da stand wirklich ein Christenmensch, der anderen Christenmenschen den Eintritt in die Kirche verwehrte. Und das heute, wo sie sich so nach einem Stuhl sehnte.
Die Leute gafften. Ihre Jacken waren löchrig, die Mäntel ausgefranst und mit den Jahren dünn geworden. Claire war sich sicher, dass sie sich an dem Schauspiel erfreuten, auch wenn sie es nicht zeigten.
»Hört zu, Haeuser«, sagte Paul, »wir haben das gleiche Recht wie ihr. Deshalb zieht jetzt bitte Euren Arm zurück.« Die Freundlichkeit schien Jockel nicht gehört zu haben.
Seine Hand an der Türzarge wurde rot, die Finger umklammerten die grauen Steinquader, und auf seinem Unterarm traten kräftige Wölbungen hervor. Wie festgefroren lag das Grinsen auf seinem Gesicht.
Claire wurde langsam wütend.
Sie glaubte hören zu können, wie die einzelnen Sekunden verstrichen. Die Augen aller ihrer Landsleute waren auf ihren Mann gerichtet. Er war hochgewachsen und schlank. Seine große Nase wurde in der Kälte allmählich rot. Er stand dem Haeuser gegenüber, wirkte weiterhin höflich und wartete ab. Claire dagegen kam unwirklich vor, was sie auf diesem Platz erlebte. War das nur ein schlechter Traum?
Mit einem Klopfen auf den nackten Unterarm wurde Jockels Griff vom Türrahmen gelöst. Das war sein Bruder, Lorenz Haeuser, der sich die Hand des anderen auf die Schulter legte. Claire wusste, dass er, wie sein Bruder, ein Gerber war, aber mit ihm machte Paul Geschäfte und bestellte sein Leder dort. Für einen Moment empfand Claire Erleichterung. Lorenz würde diesen dummen Streich beenden und seinen jüngeren Bruder fortschicken, und sie würde sich endlich hinsetzen können.
Lorenz hatte kleine, hellwache Augen, einen aufmerksamen Blick und lockiges Haar, das ihm aus der Mütze fast bis auf die Schultern fiel. Alle, die vor der Kirche standen, Einheimische wie Franzosen, auch der Bruder, wandten ihm ihre Aufmerksamkeit zu und schienen sich zu fragen, was er machen würde.
Ein General, dachte Claire.
Er tat das Gegenteil von dem, was sie erhofft hatte. Er blieb einfach stehen. Ohne ein Wort gesprochen zu haben, bildeten nun beide Haeusers eine Sperre für Paul und sie und die anderen Réfugiés. Lorenz Haeuser vermied es, ihnen ins Gesicht zu sehen, sein Blick ging über sie hinweg auf den Kirchplatz. Er setzte, den Arm weiterhin auf dem seines Bruders, zwei Schritte nach vorn und ließ hinter seinem Rücken einen schmalen Durchgang entstehen. Auch jetzt brauchte es kein Wort, damit die Mitglieder ihrer eigenen Gemeinde diese Lücke nutzten und in die Kirche drängten, blonde Frauen mit schmuddeligen Leinenhauben, die ihre Kinder vor sich hertrieben, rotwangige Männer, manche mit verschämten, andere mit hämischen Blicken zu denen, die nicht hineinkonnten.
Seit dem Morgen, seitdem sie zum ersten Mal aus dem Fenster gesehen hatte, schneite es, leicht zwar, aber ununterbrochen. Vor der Kirche war die dünne Schneeschicht von den vielen Füßen plattgetreten und mit der sandigen Erde des Platzes vermischt worden, die Felder weiter hinten hingegen, wo in der warmen Jahreszeit Kohl angebaut wurde, waren weiß. Die Leute hatten Schneeflocken auf Mützen und Jacken, sie atmeten kleine Wölkchen aus und trugen gegen die Kälte Stiefel aus brüchigem Leder. Die Kirchturmspitze, zumindest der obere Teil, war in dem nebligen Grau nicht zu erkennen.
In der Heimat lag um diese Zeit – Mitte März – bereits ein Versprechen in aller Natur, die Bäume trugen Knospen, frühe Primeln trauten sich hervor. Die Sonne hatte den Frost verbannt. Den Menschen gab sie zusammen mit der ersten Wärme Lebensfreude und eine gewisse Großzügigkeit. Es war kein Wunder, dass dieses sandige Land hier bestenfalls der Rand der Zivilisation war. Die Hälfte des Jahres Winter – das machte die Leute stumpf.
Doch hier lebten sie nun, sie selbst, Paul, ihre Tochter Isabel, der Schwiegervater und viele, viele andere. So hatte Gott für sie entschieden, und sie mussten das Beste daraus machen. Dazu gehörte, dass sie von denen, die hier geboren waren, akzeptiert wurden – schließlich waren sie Glaubensverwandte. Ihr eigener Beitrag war: sich friedlich und möglichst unauffällig verhalten, keinen Streit suchen, keinen Neid wecken. Denn es war, wie die Älteren erzählten, der Neid mehr als alles andere gewesen, der ihnen den Hass der Katholiken zu Hause eingebracht hatte.
Claire wich die Kraft aus den Beinen und in ihrem Kopf drehte sich ein schwarz-weißer Kreis. Sie brauchte endlich einen Platz, auf dem sie die Füße von sich strecken konnte. Sie tastete nach Pauls Arm und hakte sich ein.
»Madame«, hörte sie den älteren Haeuser, der sie jetzt aus seinen kleinen Augen ansah, »wenn es Euch nicht gut geht, lasse ich Euch hinein. Euch – und Eure Tochter.«
Seine Stimme war ein Bass, rund um die Nase hatte er Sommersprossen. Groß war er nicht, doch er wirkte kräftig, und es war weiterhin eindeutig, dass er allein entschied, wie es hier weiterging.
In ihre Claires Schwäche mischte sich erneut Ärger und gab ihr ein wenig Schwung. Sie musste sich bremsen, um dem Gerber nicht ein paar unfreundliche Worte zuzurufen. Während sie fester nach Pauls Arm griff, richtete sie sich auf. »Ohne meinen Mann nicht.«
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